Kommentar der Woche vom 26.07.2020

  • von Emil Sänze
  • 31 Juli, 2020

Schlaraffenland: Großstrukturen und Versorgungssicherheit bei Lebensmitteln – was lehrt Corona?

Liebe Leser,
auf den Straßen sehen Sie derzeit die Mähdrescher und die Anhänger-Gespanne der Landwirte auf dem Weg zu den Mühlen. Unübersehbar wird klar: Das Essen wächst ja hier. Derzeit ist die Presse, wie auch die Politik, voller Aufrufe hin auf eine Rückkehr zur regionalen Lebensmittelversorgung, Transparenz, Vertrauenswürdigkeit, kurzen Wegen, auch für die Tiere, die wir essen. Die Stimmung und die Bereitschaft, in diese Richtung etwas Unterstützendes zu tun, sind augenblicklich aufgeschlossener denn je. Freilich wird der Prüfstein guten Willens (und hier bin ich skeptisch) bei der mittelfristigen Bereitschaft oder Nicht-Bereitschaft der Verbraucher liegen, für eine solche Regionalisierung eben auch einen angemessenen Teil ihres Einkommens aufzuwenden, denn von schönen Worten erhält kein Milchbauer seinen Kindern den Hof und kein Schweinemäster kann unter der fehlenden Rechtssicherheit investieren, wenn immer neue Pressure Group-Wünsche an Tierschutzanforderungen sich im Galopp überschlagen und Politiker sich mit denselben profilieren wollen. Generell ist es in der deutschen Politik Mode geworden, auch denjenigen, die sich an Gesetze halten (oder gar: die das Gesetz bzw. die Wehrfähigkeit schützen), rituell zu misstrauen, wenn sich dadurch irgendeine Randgruppe als Unterstützer mobilisieren lässt. Ebenso hat es sich eingebürgert, sich an Grundbausteinen unserer Gesellschaft in Form von rituellen Feindbildern abzuarbeiten – ohne den Gedanken, was passiert, wie die nicht mehr da sind? Die Forderungen z.B. an die Landwirtschaft sind eine Facette des „Idylleversprechens“ der Politik, über das ich an anderer Stelle geschrieben habe.

Die Diskussion um eine Rückkehr zur regionalen Lebensmittelversorgung betrachte ich unter zwei Aspekten: 1. Versorgungssicherheit, und 2. Gewachsene Identität und Zusammenhalt vor Ort, was die soziale Fairness einschließt. Ich habe keinen tiefen Einblick in die Fleischbranche und äußere mich hier als beobachtender Verbraucher und als finanzerfahrener Politiker, der sein Vertrauen in regional verankerte, nachhaltig zum Nutzen Vieler angelegte Geschäftsbeziehungen setzt. Ich folgere aus Beobachtungen, die jeder selbst machen kann. Die Trennung von örtlicher Verantwortung und finanziellem Nutzen (z.B. durch rücksichtslose Privatisierung; durch die Mode, Konzernmanagement zu internationalisieren) ist für unser Land schädlich. Das Ausplündern Schwächerer durch Stärkere (zumal solche, die Gewinne nicht in Deutschland investieren) ist nicht nachhaltig. Was der Verbraucher heute bei Lebensmitteln als Schnäppchen ansieht (und wo er sozusagen im Kielwasser der großen Branchen-Haie sein Grillsteak billig kauft), hat er als Steuerzahler in Form von Subventionen längst zugezahlt. Aber wem? Die Frage ist aber, ob der Erzeuger dieses Geld bekommen und wer wirklich daran verdient hat. Oder es wird der Wein getrunken, der einen an den Urlaub erinnert und nicht das biedere Produkt vom Neckarhang, der herkunftslose Verschnitt-Honig mag aus Ungarn oder Mexiko kommen usw. Ich spreche hier nicht über lokale Romantik, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, sondern über den Erhalt von Strukturen, die uns tragen. Die Subventionspraxis gegenüber der heimischen Landwirtschaft scheint zu einer ordnungspolitischen Planwirtschaft geworden, und bei seinen Erzeugnissen macht der Erzeuger die Erfahrung – was er herzugeben hat, ist stets billig, was er an Fertigwaren kaufen muss - teuer. Der Börsen-Weizenpreis vom 22.7.2020 ist 183 Euro / t (s. https://www.raiffeisen.com/markt/telegramm/produkt/euronext/weizen/index.html) bzw. im Erzeugerpreis ca. 171 – 174 Euro / t. Dafür lassen sich schon einige Teiglinge herstellen, die beim Discounter für z.B. 29 Ct. / Stück aus dem Backautomaten fallen. Ein gut ausgestatteter Traktor zum Arbeiten kostet dagegen nach Listenpreis vielleicht 800 Euro / PS (s. https://www.agrarheute.com/technik/traktoren/traktoren-2019-548717), die Preise für die vielfältigen Betriebsmittel kenne ich nicht. Vielleicht mag auch gerade in Baden-Württemberg Mancher seinen geerbten kleinen Betrieb durch eine Arbeit in der Fabrik im Grunde „quersubventionieren“, weil er diese Arbeit und Lebensart mag, oder die Ehefrau ist außerhalb der Landwirtschaft berufstätig. Die Erzeugerpreise (Schlachtgewicht) für Fleisch liegen bei etwa 1,50 Euro / kg bei Schweinen und 3,25 Euro / kg bei Jungrindern (s. https://markt.agrarheute.com/tiere-2/schweine-11). Der Erzeugerpreis für Milch liegt bei 31,40 Euro / 100 kg (s. https://markt.agrarheute.com/milch). Mineralwasser dürfte teurer sein. Auf den ersten Blick ist klar, dass diese Preise nicht auskömmlich sein können. Verdienen kann der, der das Produkt veredelt – und wenn hier Großstrukturen auftreten, sinkt erfahrungsgemäß der Preis. Der Landwirt selber scheint eigentlich von der Basis-Flächenprämie für die Bewirtschaftung zu leben (derzeit 175,95 Euro / ha), ohne die es nicht auskömmlich geht – jedenfalls von keinem der Industrie vergleichbaren Stundenlohn. Mit weiteren Zuzahlungen diktiert ihm dann das Land im Einvernehmen mit der EU, welche Art von Landnutzung („Greening“ etc.) heute politisch gewünscht wird (s. https://foerderung.landwirtschaft-bw.de/pb/MLR.Foerderung,Lde/Startseite/Foerderwegweiser/Betriebspraemie). Diese politischen Wünsche können heutzutage sehr „idyllisch“ sein und lassen wenig Spielraum, wenn der Bürger eine heile Welt erwartet, z.B. mit glücklichen Tieren, die irgendein Bauer für ihn konservieren soll, die ihn vor lauter „Bio“ selber aber keine Arbeit kostet. Die Lebensmitteldiscounter reagieren plakativ mit Programmen und Labels auf die Idyllewünsche der Verbraucher - deren Wesen besteht aber schlicht in praktisch unbezahlten neuen Auflagen an die Erzeuger / Lieferanten und einer Art Phantasie-Landjunker mit Lodenkittel oder einem Alm-Wurzelsepp mit einem Reinhold-Messner-Bart als Etikett. Der Käse soll schließlich nicht nach Silo riechen. Es fehlt nur noch das Versprechen, das Kalb werde für den Verbraucher und Möchtegern-Gourmet („drei Scheiben von der Burgundersalami, bitte!“ – weil man es KANN!) nicht mehr geschossen, sondern, polemisch ausgedrückt, von bezopften Jungfern im Blumenkranz totgestreichelt. Es ist buchstäblich ein Schlaraffenland, das versprochen und gewünscht wird, und diese kindische Illusion wird befriedigt: Alles auf den geringsten Impuls hin (z.B. den wöchentlichen Glanzprospekt) immer zu haben, in makelloser Qualität, zu moderaten Preisen. Man darf wie immer nur nicht ganz genau hinsehen. Fragen dieselben „schleckigen“ Regio-Bio-Kunden denn auch, welches Geschäftsmodell der Dönerladen in der Nachbarschaft oder der von ihnen geschätzte Kosovo-Pizzabäcker betreiben, ob dort nicht vielleicht die eigenen Neffen für geringen Lohn beschäftigt werden oder welche Zutaten in das bequeme Liefergericht, das man vor dem TV verzehrt, kommen, oder was all denn die kleinen Fußnoten auf der Bestellkarten-Litanei bedeuten? Denn Eines ist sicher: Der Bedarf der Bequemlichkeit wird gefüllt, und Fragen, die keiner stellt, werden nicht von selber beantwortet. Nachdenken wäre kleinbürgerlich. Falls dann einmal ein Mißstand gefunden wird, sind alle schrecklich erschüttert und empört und wollen sich im typischen BILD-Zeitungs-Duktus als Opfer sehen. Das Problem für die Landwirte besteht dagegen darin, dass die Herstellung der ersehnten „ländlichen Idylle für alle“ – das Komplementär zum Schlaraffenland beim Discounter - dann eben einer inzwischen gesellschaftlichen Minderheit diktiert wird, die auf privatem Land einen öffentlichen Themenpark „Bäuerlicher Familienbetrieb“ bewirtschaften soll. Von unternehmerischer Freiheit kann hier höchstens noch sehr beschränkt die Rede sein. Ich selbst hänge an unseren Kulturlandschaften sehr und sicher kann ich mir als Abgeordneter auch leisten, nicht immer auf den Preis zu sehen – das stimmt eben sicher auch. Aber es geht nicht um Luxuserwägungen. Die Geiz-Gier und der Wunsch, Geld lieber für Repräsentation auszugeben als für Lebensmittel, scheinen an eine Grenze gestoßen. Einmal praktisch, wo zentrale Verarbeitungsbetriebe geschlossen wurden, aber auch grundsätzlich.

Die Corona-Infektionsfälle z.B. bei den Großschlachtern Tönnies und Müller haben aufgeschreckt und Licht auf Verhältnisse geworfen, von denen zuvor keiner etwas wissen wollte: Unwürdige Beschäftigungsverhältnisse, überregionaler Ein- und Verkauf mit entsprechenden Transporten, Vertrauensverlust, Verunsicherung. Im Grunde oligarchische Strukturen – z.B. Edeka, Aldi, Lidl, Rewe – sind zu einer beherrschenden Marktmacht herangewachsen, treffend Discounter genannt, welcher auf der anderen Seite Großverarbeiter und -lieferanten gegenüberstehen, die den Druck nach unten weitergeben können. All dies hat beim Verbraucher Kaufkraft für andere Wünsche freigesetzt. Vom Preiskampf der Anbieter profitiert der Verbraucher nur vordergründig, denn die niedrigen Preise, die er zahlt, werden den Produzenten und Verarbeitern durch Subventionen aufgestockt – und auch deren Vergabepraxis befördert noch den Wandel zu Großstrukturen und arbeitet gegen die bäuerlichen Erzeugerbetriebe. So hatte der in die Schlagzeilen geratene Schlachtbetrieb in Birkenfeld bei Pforzheim in den Jahren 2017 und 2018 insgesamt fast 1,2 Mio. Euro an europäischen ELER-Subventionen erhalten. Die Begründung des ELER-Programms muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: „Es werden Investitionen (in materielle Vermögenswerte) gefördert, die zu einer wettbewerbsfähigen, nachhaltigen, umweltschonenden, tiergerechten und multifunktionalen Land- und Ernährungswirtschaft beitragen. Neben der Verbesserung der Wertschöpfung, der Lebens-, Arbeits- und Produktionsbedingungen finden dabei auch die Interessen der Verbraucher, die Entwicklung des ländlichen Raumes sowie die Erhaltung der biologischen Vielfalt sowie Belange des Umwelt- und Klimaschutzes Berücksichtigung. Die Entwicklung wettbewerbsfähiger Strukturen mit zeitgemäßen Arbeits- und Tierhaltungsbedingungen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherung der Wertschöpfung und Beschäftigung in der Land- und Ernährungswirtschaft. Förderfähig sind Investitionen in landwirtschaftliche Betriebe, in Unternehmen der Verarbeitung und/oder Entwicklung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Infrastrukturmaßnahmen in Verbindung mit der Modernisierung der Land- und der Forstwirtschaft sowie nicht-produktive Investitionen im Zusammenhang mit der Verwirklichung von Agrarumwelt—und Klimazielen.“ Als würde man sich das Paradies samt Schlaraffenland auf Erden einkaufen! (Übrigens konnten 2007 bis 2012 in Baden-Württemberg – s. Landtagsdrucksache 16/3448, Frage 5, bei den Aufwendungen für die Schlachtung von Tieren Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten und unter 10 Mio. Euro Jahresumsatz nicht gefördert werden, wodurch der seinerzeitige tatsächliche amtliche Wille zur Konzentration verdeutlicht wird. Die kleineren Betriebe, deren Fehlen jetzt bejammert wird, hielt die Landesregierung für unnötig – ihre Modernisierung war nicht vorgesehen.) Ich brauche Ihnen übrigens nicht zu sagen, dass bei dem vom Corona-Ausbruch bei dem Birkenfelder Betrieb betroffenen Landkreis (Enzkreis) meines Wissens inzwischen Kosten von ca. 750 Tsd. Euro an Unterbringungs- und Quarantänemaßnahmen für dessen Mitarbeiter, sowie ca. 170 Tsd. Euro an Labor- und verwandten Kosten für Corona-Testreihen aufgelaufen sind. Die Aussichten, den betroffenen Betrieb für die entstandenen Schäden der öffentlichen Hand in Regress zu nehmen, scheinen ungeachtet aller moralischen Vorhaltungen, die man erheben mag, nach geltendem Recht nicht gut.
Auf Deutsch gesagt, es gilt das eherne Gesetz der Verteilung. Wer schon hat, der kriegt, und das heute unter den typischen weltanschaulich-weltverbessererischen Zeitgeist-Modebegriffen eines vermeintlichen irdischen Paradieses. Und sogar das Recht war so gemacht, dass die finanziellen Risiken des Geschäftsmodells bei der öffentlichen Hand landen. Die Kleinen gehen derweil mangels Perspektive vor die Hunde bzw. werden mit administrativen Schikanen erwürgt, werden mangels Nachfolger nicht weitergeführt, die Dörfer werden sterile Vorstädte, ohne Tiere, ohne Dorfcharakter, ohne Geschrei, ohne Geruch, ohne gewachsenen Zusammenhalt und Verwurzelung, besiedelt willkürlich und anonym nach dem Angebot an günstigem Bauland und Verkehrsanbindung für den Pendler-Arbeitsplatz. Was schon da ist und nachhaltig funktioniert hat, wird als „altmodisch“ verlacht und plattgemacht, und manche Dauer-Gemeinderäte halten das noch in ihrem achten Lebensjahrzehnt für Fortschritt, was den Eingesessenen gruselt. Diese aus meiner Sicht ungute Konzentration im Einzelhandel (ein Symptom für eine allgemeine Anonymisierung) setzt zunächst einmal voraus, dass die Bevölkerung (auto)mobil ist, aber das nur am Rande. Relevant für den Strukturwandel scheinen angeblich die VO (EG) 852/2004, VO (EG) 178/2002, EU-Schlachtverordnung VO 1099/2009.

Es ist hier müßig, über Gerechtigkeit zu erörtern. Es ist dagegen opportun, angesichts von Corona-Infektionen in für die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zentralen Verarbeitungsbetrieben von Versorgungssicherheit zu reden. Es ist auch ein überaus günstiger Zeitpunkt, von Vielfalt und von Tradition reden, die wir zugunsten eines homogenisierten Massen-Lebensstils verlieren. Der Verlust des Regionalen ist ein Kulturverlust und auf subtile Weise auch ein Identitätsverlust, hervorgerufen durch standardisierte Anforderungen der Arbeitswelt, allzeit imperativ, und durch standardisierte Angebote, die sich durch Gleichförmigkeit, Berechenbarkeit, Preisgünstigkeit auszeichnen – „convenience“ ist das US-Wort dafür. Es ist aber mit fast allem so: Dinge geschehen, weil Einer es tut und der Andere es in seiner Bequemlichkeit geschehen lässt. Ist Ihnen aufgefallen dass in Ihrem Büro ganz selbstverständlich auch der Kaffee samt Gebäckmischung bei Amazon gekauft wird, weil man dort so bequem alles an die Haustür bekommt? „Ich trag das Zeug doch nicht durch die Stadt!“, sagt Ihnen die Sekretärin. Wer heute als Anbieter die Bequemlichkeit und Verfügbarkeit diktieren kann, der bestimmt das relevante Angebot auch inhaltlich. Es setzen sich Dinge durch, auf die Sie bei einigem Nachdenken nie kämen. Oder ist Ihnen aufgefallen, dass das, was die Werbung heute unter „Kochen“ versteht, allzu oft darin besteht irgendetwas „Leichtes“ und allzeit Verfügbares, meist irgendein mehrfarbiges Paprikagemüse, mit leichten Putenfetzen oder verfremdend Paniertem (nur keine Augen und kein Gesicht! nur kein rotes Fleisch! nur kein Blut! Nur keine belastende Schuld am Elend der Kreatur und der Welt!) in die Pfanne zu schnippeln? Wer hat von unseren so hoch mobilen Berufstätigen schon noch ein Gärtlein hinter dem Haus? Egal wo Sie wohnen, egal welchen Dialekt Sie sprechen, oder Ihre Kinder – die sprechen wahrscheinlich gar keinen mehr - Sie sind der berechenbare Angestellte und, infolge dieses Taktes, der homogenisierte Konsument. Alles andere erfordert heute eine bewußte Entscheidung, eine bewußte Anstrengung. Der Laden des Bäckermeisters, bei dem Sie schon als Kind für 25 Pfennig ihre Brezel geholt haben, wo sie heute am Samstagmorgen auf der Straße wegen „Corona“ Schlange stehen und sich mit Ihren Nachbarn unterhalten, der ist Identität. Wäre dumm, wenn er fehlte.

Wenn Sie sich heute einmal den Chor einer Fleischerinnung oder Bäckerinnung anhören, dann wird das Durchschnittsalter wohl bei weit über 60 liegen. Wenn Sie mit dem Innungsmeister reden, dann ist der wahrscheinlich Anfang bis Mitte 40 und der mit Abstand Jüngste und Aktivste unter seinen Berufskollegen. Junge Meister: meist Fehlanzeige. Es sind ja auch keine, nach heutigem Verständnis, Aufsteigerberufe und passen nicht in die heute propagierten Gratifikationssysteme. Ich habe noch keine glamouröse Metzgerserie im TV gesehen. Und die, die noch wollen, und an deren Wollen noch mancher 450 Euro-Job hängt, haben es nicht leicht. Die Landesregierung sieht (2017) die Struktur der und Situation der Schlachtstätten so: „Insgesamt verfügen im Land 901 Betriebe (Stand Anfang 2017) über die hygienerechtliche Zulassung für die Schlachtung von als Haustieren gehaltenen Huftieren (Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen, Pferde). Bei diesen hygienerechtlich zugelassenen Schlachtstätten handelt es sich zum großen Teil um Schlachtstätten von landwirtschaftlichen Direktvermarktern und Metzgereien. (…) Nach der 1. Fleischgesetz-Durchführungsverordnung sind Betriebe, die wöchentlich über 200 Schweine oder 75 Rinder schlachten, verpflichtet, Meldungen über Preise und angelieferte Mengen zu erstatten. Derzeit melden 19 Betriebe bei Rindern und 29 Betriebe bei Schweinen. Hiervon verfügen 22 Betriebe über eine gültige Öko-Zulassung. (…) Von den meldepflichtigen Betrieben wurden im Jahr 2017 416.188 Rinder geschlachtet und damit 87 % der in den ersten 11 Monaten 2017 im Land geschlachteten Tiere. Im Jahr 2017 wurden von diesen meldepflichtigen Betrieben 3.291.383 Schweine geschlachtet und damit 74 % der von Januar bis November 2017 im Land geschlachteten Schweine. Eine weitere Aufgliederung dieser Schlachtdaten in ökologische oder konventionelle geschlachtete Tiere erfolgt derzeit nicht. (…) Baden-Württemberg verfügt über eine vergleichsweise dichte und vielfältige Schlachthofstruktur. Die kleineren Schlachtbetriebe (v. a. Metzgereien) sind gut über das Land verteilt. In jedem Landkreis sind mindestens 15 Metzgereien und/oder Landwirte für die Schlachtung von Schweinen und/oder Rindern zugelassen. Diese kleineren Schlachtbetriebe (ca. 800 im Land) haben jedoch nur einen geringen Bedarf bzw. ein geringes Schlachtaufkommen und machen in der Summe nur einen sehr kleinen Teil des gesamten Schlachtaufkommens aus. In den drei größten Schlachtbetrieben des Landes für Schweine werden rund 70 % des Schlachtaufkommens geschlachtet; auf die kleineren Schlachtbetriebe entfallen lediglich 3 bis 4 % des gesamten Schlachtaufkommens von Schweinen. Die übrigen gut 25 % der Schlachtungen von Schweinen werden in den mittleren Schlachthöfen geschlachtet. (…) Der Fleischmarkt befindet sich im scharfen Wettbewerb. Schlachtbetriebe müssen die Kostenstruktur auf der Schlacht- und Verarbeitungsstufe und gegebenenfalls das Marketing verbessern, um dauerhaft bestehen zu können. Große Metzgereien, teils auch als Filialisten, haben in den letzten Jahren entsprechend ihrer auf Verbraucherinnen und Verbraucher ausgerichteten durchgehenden Produktstrategien in eigene kleinere Schlachtanlangen investiert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Betriebsgrößenentwicklung der Schlachtbetriebe weitergeht, da sie untereinander im Wettbewerb in der Versorgung des Lebensmitteleinzelhandels, des Ernährungshandwerks, der Außerhausverpflegung, der Verarbeitungsunternehmen und auch im Export stehen. Die Verlagerung wird vor allem auch mittlere Dienstleistungsschlachtbetriebe für die regionale Versorgung von Metzgereien betreffen, da diese im Wettbewerb mit den großen Betrieben meist deutlich höhere Stückkosten aufweisen. (…)“ (s. https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/3000/16_3448_D.pdf). Hier sind zunächst die Größenordnungen klargeworden. In Baden-Württemberg wurden 2016 knapp 533 Tsd. Rinder (2011: 639 Tsd.), 5 Mio. Schweine (2011: 4,1 Mio.), knapp 170 Tsd. Lämmer (2011: 160 Tsd.), 15 Tsd. Schafe (2011: 16 Tsd.), 5,2 Tsd. Ziegen (2011: 6,7 Tsd.) und 590 Pferde (2011: 949) in- und ausländischer Herkunft geschlachtet. Die Fleischerzeugung bleibt in etwa gleich und verschiebt sich lediglich vom Rindfleisch zum Schweinefleisch, vielleicht eine Preisfrage. Die obigen Ausführungen der Landesregierung zur Struktur der Schlachtbetriebe bedeuten: Kommunale mittlere Schlachthöfe, in denen offenbar Metzgereien ohne eigene Schlachthäuser schlachten oder schlachten lassen, seien zu teuer und könnten sich gegenüber Großbetrieben nicht halten – besonders da, wo Vieh aus anderen Regionen gebracht werden müsse und sich die Erneuerung der Einrichtungen, um EU-Hygieneauflagen zu genügen, nicht lohne. Von den sehr komplizierten und anspruchsvollen Vorschriften rund um die Schlachtung kann man sich hier ein Bild machen (s. https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/4000/16_4829_D.pdf). Wie all dies im Rahmen einer kleinen Einheit rechtssicher umzusetzen sein soll, ist mir schleierhaft. ---

In der Tat scheint der prognostizierte Strukturwandel infolge europäischer Hygienevorschriften zwischen 2005 und 2017 auch genau so eingetroffen zu sein (s. https://www.landtag-bw.de/home/aktuelles/pressemitteilungen/2017/februar/162017.html). Dabei muss ich mich übrigens fragen, ob nicht gerade in Deutschland die in der Umsetzung teuren Hygieneverordnungen mit besonders streberhaftem Furor umgesetzt wurde und z.B. in einem bestimmten südlich-romanischen Land, wo man von Pferden in der Lasagne hörte, eher locker genommen wurden und man vielleicht auch Subventionen kreativ zu verwerten wusste. Der Strukturwandel wurde bereits zu Anfang des Jahrtausends gesehen und im Grunde als Nebenprodukt der EU-Osterweiterung und der in die neuen Mitgliedsstaaten fließenden Subventionen angesehen (s. https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP13/Drucksachen/3000/13_3239_D.pdf). 2004 gab es in Baden-Württemberg noch rund 2.300 registrierte Schlachtstätten und 47 von der EU zugelassene Schlachtbetriebe. Ende 2005 sollen noch rund 1.700 derartige Betriebe registriert gewesen sein. Es lässt sich kaum von der Hand weisen, dass unter der Maßgabe des echten oder vorgeblichen EU-Gesundheitsschutzes und unter der Drohung, in Mittelosteuropa entstünden mit EU-Subventionen Großschlachthöfe, zugunsten der Vermarktung über die Discounter zentralisierte Verarbeitungs- und Logistikstrukturen entstanden, die eher einem klassischen Fleischexportland (wie Dänemark) entsprechen. Der Strukturwandel war eindeutig offiziell gewollt. Damit waren auch die heute ebenso lautstark wie heuchlerisch beklagten sozialen Folgen, die Beschäftigung – Manche sagen: Ausbeutung - billiger ausländischer Arbeitskräfte in unwürdigen Beschäftigungsmodellen, zumindest toleriert.

Es bleibt unschwer zu erraten, dass der Kostenvorteil der bekannten „too big to fail“-Großbetriebe eben auch auf deren heute von allen Seiten kritisiertem Werkverträge-Beschäftigungsmodell beruht. Für den Käufer bedeutet dies aber, dass er auch beim handwerklichen Dorfmetzger, so er noch einen hat, im Sortiment zunehmend mit Fleischerzeugnissen vom Großschlachthof bedient wird, auch wenn diese sich nicht so nennen, und dass die „eigene Schlachtung“ ein Alibibegriff zu werden droht. Hingegen hält sich ein nach der Stückzahl der geschlachteten Tiere eher unbedeutender Sektor kleiner Betriebe, die wir heute überwiegend als bäuerliche Selbstvermarkter identifizieren können, die sich eine Nische geschaffen haben und die Wertschöpfung im eigenen Hause halten können. Doch auch die Zahl dieser „nach EU-Recht zugelassenen Schlachtbetriebe“, die die Landesregierung als „selbstschlachtende Metzgereien und landwirtschaftliche Betriebe mit Selbstvermarktung“ identifiziert, ist von 1.061 (2011) auf 913 (2018) gesunken (von 2.300 bzw. 1.700 in den Jahren 2004 und 2005). Wir dürfen annehmen, dass die Veterinärämter der Kreise als Erfüllungsgehilfen hoheitlichen Willens zum Strukturwandel diesen verbliebenen Betreibern das Leben ordentlich schwergemacht haben, wo inzwischen (z.B. Enzkreis) in den Dörfern Hasenställe veterinärbehördlich vermessen werden und der für Neuankömmlinge unerträgliche Hahnenschrei vor Gericht gehen mag. Um einen Hasen von über 2 kg zum Tode befördern zu dürfen, muss man übrigens zuvor schon einen erstaunlichen Aufwand auf sich nehmen (s. http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_09022000_32135220006.htm; http://www.bsi-schwarzenbek.de/termine.html; https://www.landkreis-ludwigsburg.de/de/gesundheit-veterinaerwesen/veterinaerwesen/schlachten-toeten-von-tieren/), vulgo: den „Hasenführerschein“ machen. Festzuhalten ist: Das Wachstum der privaten Fleischriesen ging zu Lasten der kommunalen Infrastruktur – und mutmaßlich auch zu Lasten der Arbeitsplätze einheimischer Menschen. Es ist nett, in einem schön verschnörkelten Backstein-Schlachthof vom Anfang des 20. Jahrhunderts ein Gründerzentrum oder ein Kleintheater zu sehen. Aber das bedeutet zugleich auch, dass etwas aufgehört hat zu existieren, das eigentlich Teil der kommunalen Daseinsvorsorge war, dass niemand in etwas Neues investiert hat, sondern lediglich Immobilien verwertet. Städte wie Karlsruhe, Bruchsal oder Pforzheim haben keinen Schlachthof mehr. Bei Kaufland oder Aldi gibt es ja Fleisch.

Ich habe jetzt genug an Symptomen aufgezählt und versucht, eine Schieflage mitsamt ihren skurrilen Schnörkeln zu beschreiben. Aber entscheidend ist: Wo wollen wir jetzt hin? Ich sehe eine große Chance. Wenn der Zeitgeist heute sagt: Wir wollen unsere Lebensmittel von Leuten, die wir kennen und denen wir vertrauen, wir wollen von Wertschätzung reden, unsere Nachbarn sind uns wieder wichtig, wir haben erkannt, dass wir eigentlich zusammengehören – dann stehen wir, die AfD dem tausendprozentig nicht im Wege! Es gibt, auch von der politischen Konkurrenz, auf Kreisebene und auf Landesebene bereits Bestrebungen, diesen Zeitgeist einzufangen und etwas für die handwerklichen Lebensmittelverarbeiter der Nachbarschaft zu tun. Der Konsens scheint parteiübergreifend, Auswüchse zu beenden. Wir stehen hinter dieser Sache. Nur darf es dann nicht im zweiten Schritt ideologischer Überschwang werden.
Ihr
Emil Sänze
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